Warum reist man? Packt die Koffer, kaum, dass man zu Hause angekommen ist, wie so oft seit 1996? Warum hat man Reisefieber und Fernweh? Wünscht sich, im Zug zu sitzen – im Amtrak, quer durch Amerika; wünscht sich, mehr als alles andere, das Rollen der Räder unter den Füßen; rollende Landschaft vor dem Fenster, Stift und Papier zur Hand, warum?
Reist man, um anzukommen? Um zu verstehen? Um irgendwann die richtigen Fragen zu stellen?
Mistra, Griechenland „Der Aufstieg dauert zwei Stunden. Entlang der gewundenen Straße geht es, an dichtbewachsenen Orangen- und Zitronenhainen vorbei … Durch den Einlass in der alten Stadtmauer führt der Pfad immer wieder an kleinen, einander ähnelnden Kuppelkirchen aus rotbraunem Stein vorbei … Mistra, die verlassene Stadt, ist nicht tot. Das Leben schläft unter den Steinen und auf den Bildern. Entdeckt man einen Stein aus antiker Zeit im Mauerwerk einer Mistra-Kirche, sieht man durch eine Oberfläche die Umrisse anderer Zeiten schimmern. Einwohner und Mythen ja, noch die Steine der Häuser sind über die Jahrhunderte hinweg zwischen Mistra und Sparta hin- und hergewandert. So hautnah und berührbar liegen hier die Schichten vergangener Epochen unter der Oberfläche der Gegenwart, so still ist `Myzithra, die Uneinnehmbare`, dass man gar nicht anders kann als ihr zuzuhören.“ (Frankfurter Rundschau, 21.12.96)
Birzeit, Palästina „Ein paar hundert Meter weiter liegen die Gebäudekomplexe der palästinensischen Universität Birzeit. Ein schwacher Duft von Thymian, Salbei und Oregano hängt in der Luft … Nichts ist so schwer wie der lange Atem, sagt Sumaya Farhat-Naser. Es passieren ständig Folter und Morde, und wir dürfen uns daran nicht gewöhnen.“ (Weltwoche, 1996)
Johannesburg, Südafrika (im Gespräch mit Nadine Gordimer) „Wie, fragt Gordimer, ist es um die Alltagsdimension von Versöhnung bestellt? Immer wieder verwundert mich die freundliche Toleranz der Schwarzen. Man steht im Aufzug nebeneinander, es ist eng, sie lächeln mich an und sagen: Sorry Gogo, – das ist ein liebevolles Kosewort für Grossmutter.“ (Neue Zürcher Zeitung, 23./24.11.1996)
Berlin, Deutschland „Ich bin am Hackeschen Markt. Unzählige Baukräne und Bagger kehren das Unterste zuoberst … Berlin 97 hat es so eilig, zu Berlin 2000 zu werden … Für teures Geld wird saniert, entkernt und nicht selten eine neue zahlungskräftigere Mietpartei gesucht. Zukunft ist wichtiger als Erinnerung. Aber gibt es Zukunft ohne Erinnerung?“ (Hangar, Sept. 1997)
Nach Tanger, Marokko, bin ich mit einer Schweizer Truckerin gefahren. Wie ist es für eine Frau, auf Parkplätzen, Straßen und in der Fahrerkabine zuhause zu sein? „Wir rollen auf den Parkplatz. Da ist auch Georg auch Norddeutschland. Vreni strahlt, als sie den Hängerzug schwungvoll auf den Platz einbiegen sieht. Lange nicht gesehen, sie nehmen sich in den Arm. Dumme Sprüche, dass es kracht: Hey, letzte Nacht hab ich an deine Kabine geklopft, aber du machst ja nie auf!“ Hauptsache, es ist lustig. Hauptsache, man ist nicht mehr allein. Vreni erzählt, dass anfangs niemand geglaubt habe, dass sie einfach nur Freude am Fahren hätte. „Mittlerweile respektieren sie das.““ (Meyers Modeblatt, 17/97)
Tanger: „Schönheit, sagt Omar, liegt in der Wiederholung. Die Muster in Möbeln, Stoffen und an Wändern rezitieren wieder und wieder den ewigen Rhythmus des Kosmos … Draußen, die Augen wieder ans helle Tanger-Licht gewöhnend, steht man klein auf den hohen Klippen über der Stadt.“ (coop-Zeitung 12.11.97) Als ich allein in der Medina unterwegs bin, versucht ein Mann, meine Kamera zu stehlen, aber mein Schrei vertreibt ihn. Ein Junge schenkt mir eine Hand der Fatima als Anhänger damit nichts mehr passiert.
1998. Varanasi, Indien „4 Uhr früh. Der runde Mond wirft sein fahles Licht über den Fluss. Am Ufer liegen überall in Decken gewickelte Menschen. Einer döst, an seine klapprige Fahrradrikscha geschmiegt. `Fahren Sie schon?` frage ich leise. Ein Sprung, schon ist er auf den Beinen… Am Ende der Treppen stehen Maharjapaläste, verfallene Prunkbauten alter Zeit. Dahinter liegt die Stadt. Varanasi ist eine der ältesten Städte der Welt und für hindus einer der heiligsten Orte. Hier, am Ufer des Ganges, möchten die Gläubigen sterben.“ (Hangar, Sept. 1998)
Berlin, Deutschland. Gespräch mit Daniel Libeskind zum Jüdischen Museum. „Der Weg führt in den Untergrund. Wer sich der jüdischen Geschichte nähern will, muss hinunter… `Es gibt eine Leere in der jüdischen Geschichte, die mit nichts zu füllen ist. Und hier haben wir Raum um die Leere herum gebaut`, sagt Libeskind.“ (Badische Zeitung 26.8.1998)
Rom, Italien „`Ein heiliges Jahr findet entweder innerlich statt oder gar nicht.` Für Pater Giovanni Giuliani steht das fest. Er selbst nennt sich den Bürgermeister des Petersdoms.“ (Rheinischer Merkur, 5.2.98) – „`Un grande casino – ein Riesenchaos. Der grösste Mist, den Italien seit langem anzettelt. Der Staat verschleudert sein Geld, der Vatikan will gut dastehen und Rom wird überschwemmt von Leuten, die keine Kohle haben.` (Weltwoche)
2000-2003 lebte ich in Italien, nahe Urbino. Warum reist man? Manchmal auch, um zu bleiben.
Triest, Italien, – „schwer von Vergangenheit, ein grauer Himmel hängt über der Lagune von Grado, der Rilke-Pfad ist sichtlich vor allem von Hundebesitzern genutzt, das Schloss Miramare schon von aussen so kitschig … nur das Verschieben eines Buchstabens, und schon wird aus `Triest` `triste`.“ (NZZ 10.4.2001),
„`Claudio Magris, haben Sie einmal daran gedacht, Triest endgültig zu verlassen?„Nein, das war nie die Frage. Ich bin wie eine Schildkröte. Ich lege nichts im Leben ad acta.`“ (Tagblatt 24.3.2001)
2004 London, England. „Ein scharfer Wind geht über Hampstead Heath. Jagt Wolkenfetzen über reinen Azur, fegt alle Unschärfen über dem Hügel im Norden Londons fort, und treibt erstaulich Farben hervor: das englische Klima ist nicht etwa schlecht – es ist wetterwendisch, windbetrieben … Die große Doris Lessing ist eine kleine zierliche Frau mit scharfen Augen und einem wohlwollenden Blick. Vor ihrer Spontaneität bricht jedes Podest – sollte man eines erbaut haben – in Windeseile zusammen …“ (DIE ZEIT, Literaturbeilage, Mai 2004
2007, Jerusalem, Israel: „`Kommen Sie in mein Kaffeehaus, ich warte dort auf Sie!`, hatte Aharon Appelfeld gesagt. Das Ticho Coffeehouse liegt im unteren Teil von Jerusalem, der `neuen Stadt` …Aber auch im schönen exotischen Garten des Ticho sitzt eine Sicherheitskontrolle vor der Tür; drinnen, unterm weiß getünchten Kreuzgewölbe, sind Leute im Gespräch versunken, weder von Musik noch von Rauch gestört. Das braucht es, damit Aharon Appelfeld ein Kaffeehaus zu seinem erklärt; sich drei-, viermal die Woche dorthin begibt, in einer ruhigen Ecke mit Stift und Papier einrichtet und schreibt. So sitzt er auch jetzt da, kerzengerade aufgerichtet, Umschau haltend: ein kleiner, sehr freundlicher Mann mit einem runden Gesicht unter der schwarzen Schirmmütze und riesigen hellen Augen, die ein bisschen wie aufgerissen aussehen als müssten sie ein Maximum fassen; ein Äußerstes leisten an Beobachtung und Wahrnehmung.“ (DIE ZEIT, 15.3.2007)
Seit 2005 Nordamerika und kein Ende. Mein Amerika begann und beginnt immer wieder in einer Straße in Cobble Hill, Brooklyn, New York, Brooklyn, wo Paula Fox und ihr Mann Martin Greenberg leben. „In diesen Straßen des kleinräumigen New York, durch Brooklyn Bridge getrennt von der Wolkenkratzerinsel, lebten irgendwann mal Truman Capote, Arthur Miller und Carson McCullers; leben Norman Mailer und James Purdy; die neighbourhoods heißen Cobble Hill und Carroll Gardens, haben kleine Vorgärten, in denen kniende Madonnen die zahlreichen italienischen Einwanderer verraten … New York ist der Fixstern im nomadischen Leben der Paula Fox; von Florida, Kalifornien, Kuba, Europa, kam sie immer wieder hierher zurück.“ (DIE ZEIT, Literaturbeilage Oktober 2005)
New York, Downtown, USA „Der Platz sieht klein aus – aber vielleicht auch nur, weil das Geschehen, das man im Kopf hat, so groß ist, dass es von realen Quadratmetern nicht eingeholt werden könnte. Spuren gibt es dreieinhalb Jahre später nicht – oder kaum – mehr zu sehen; ein Stück Etage, das in einem der alten Gebäude ringsum fehlt, wie herausgebissen; hier wird noch renoviert. Die Luft aber sei `erfüllt von Erinnerung und Schmerz` … Aus den Stimmen und dem Nachhall dieses Tages hat der Schrifsteller Paul Auster, zusammen mit vielen anderen eine Soundwalk-CD erstellt, ein tönendes Denkmal für all jene, die der schweren Luft über Ground Zero im wahrsten Sinne des Wortes nachgehen wollen.“ (Landbote, 16.4.2005)
Toronto, Ontario, Kanada: „Es ist Mittagszeit, in der vielspurigen Bloor Street, einer der Hauptverkehrsadern von Toronto, herrscht konzentriertes Menschen- und Autogewimmel… Irgendwo in dem ruhigen Wohnviertel hinter der Bloor Street muss auch das Haus von Margaret Atwood und ihrem Mann, dem Schriftsteller Graeme Gibson, liegen. Dort wollte sie sich nicht verabreden – zu Hause ist ein privater Ort. Zu Hause ist aber auch ein komplexer Ort, und was Toronto betrifft, sind Atwoods Wurzeln nicht auf ein Haus beschränkt, sondern gehen in die Breite einer ganzen Kindheit und Jugend, reichen bis in jene tiefere Zone, in der die Schriftstellerin gerade das Vertraute infrage stellt. So erinnert sie daran, dass die Stadt, die heute Bewohner aus mehr als 120 Nationen in sich vereint, ihren Namen den ersten Bewohnern verdankt; den heute `First Nations` genannten Indianern. In deren Sprache heißt Toronto Versammlungsplatz …Manchmal, so schreibt Atwood in ihrem neuen Buch, `tauchen sie in den Museen auf, ohne Hüte, in den alten farbigen Trachten und singen authentische Lieder und tun so, als wären sie sie selbst. Damit verdienen sie Geld. Aber in bestimmten Momenten, dann und wann, in der Abenddämmerung vielleicht, wenn die Nachtfalter und die nachts blühenden Pflanzen herauskommen, riechen unsere Hände nach Blut. Das haben wir ihnen angetan.`“ (DIE ZEIT, 16.11.2ßß6)
Vancouver Island, British Columbia, Kanada: „Die Sonne leuchtet über der Bucht von Tofino und sie funkelt in Tsimkas Augen. Von Weitem hatte man unten am Wasser ihre zierliche Gestalt zwischen zwei Kanus hin und herlaufen sehen. Neben dem Kanu stehen Totempfähle. Im Kanu vereinen sich Zeder und Meer, die beiden wichtigsten Elemente im Leben der Pazifikindianer; es bringt sie auf die Jagd nach Lachsen und Walen, zu ihrem Lebensunterhalt. Chief Jerry Jack ist im Kanu verunglückt. Das Kanu bringt also nicht nur Leben, es bringt auch den Tod.
Was hast du denn gedacht? Die Raben, Adler, Bären, Killerwale und Donnervögel schauen von den Totempfählen herunter und schweigen laut.“ (DIE ZEIT, 12.4.2007)
Cape Cod, Massachusetts, USA: „Aber wer weiß schon so genau, in welchem Zustand der Erschöpfung sich die berühmten `Pilgrims`befanden, als sie am 21. November 1620 an der Spitze jener lang gebogenen Landzunge landeten, die wir heute Cape Cod nennen? Dort wo sich der rund 100 Kilometer messende Landstreifen wie eine Schnecke nach innen krümmt, liegt das westliche Ende des Städtchens Provincetown und eine geschützte Bucht mit so flachem Strand, dass die Pilgrims ihre `Mayflower` nicht bis ans Ufer steuern konnten. Sie mussten an Land waten … Solche Gedanken kommen mir bei meiner ersten Ankunft in Provincetown. Die Busfahrt auf der Route 6 hatte an bunt gefärbten Bäumen vorbeigeführt und verstreut liegenden Sommerhäusern… Holzhäuser, hübsch und zierlich, mit Erkern und geschnitzten Hauseingängen …“ (Der Bund, 21.11.2009)
Cornish, New Hampshire, USA: „Menschenleere, wilde Natur hatte J.D. Salinger schon gesucht, als er 1952 durch Neuengland gestreift war, jenes weite Hinterland von Boston, zu dem auch New Hampshire gehört … Hier, das muss es sein, das kleine Haus, in dem Salinger dann gut zehn Jahre mit seiner Frau Claire und den beiden Kindern Margaret und Matthew lebte. Damals war es das einzige weit und breit. Heute gibt es andere, aber immer noch ist es hier oben so einsam, dass mehrere Augenpaare hinter den Fenstern unsere Suche misstrauische verfolgen. Dann sehen wir hundert Meter weiter Salingers zweites Haus, jene Holzranch,die er sich nach der Trennung von Claire baute; unauffällig, niedrig, dunkelbraun, wie ein großes Tier an den Waldrand gekauert. Hier gelang es Salinger von den späten sechziger Jahren an – sein Fänger im Roggen war mittlerweile zehn Millionen mal verkauft worden ziemlich perfekt, sich vor der neugierigen Welt zu verstecken.“ (DIE ZEIT, 11.3.2010)
Providence, Neuengland, USA: „Dieses blitzende Stück Chromstahl, in dem sich die Straßenlaternen spiegeln und das, umgeben von der wuchtigen City Hall und den Hochhäusern der Geschäftsstadt, so winzig aussieht, ist eine lebendige Erinnerung, dass genau hier ein zentrales Stück amerikanischer Esskultur seinen Anfang nahm: Rühmt sich das Haven Brothers doch, der ´älteste Diner der Welt auf Rädern` zu sein …` Fast 140 Jahre ist es her dass hier in Providence, der am Atlantik gelegenen Hauptstadt von Rhode Island, ein junger Mann namens Walter Scott die Idee hatte, nicht mehr nur von einem Handkarren herunter Sandwiches zu verkaufen Er spannte sein Pferd vor ein Wägelchen und zog abends vor die Fabriken, um den Arbeitern der Nachtschicht für einen Nickel warme Pies, Chicken Sandwiches und gekochte Eier anzubieten … `Gehen wir frühstücken?`Frühstück am Nachmittag? Richard Gutman lacht. Breakfast all Day ist ein Angebot, das den Diner auszeichnet wie die Servietten auf dem Tisch und die Jukebox in der Ecke… Stahlglänzend mit gerundeten Ecken steht der sogenannte Streamliner am Stadtrand von Providence.“ (DIE ZEIT, 20.9.2011)
Per Greyhound im Mittleren Westen unterwegs: „Am nächsten Morgen im Bus: Hoodies, Basecaps, Männer mit Dreitagebärten und Tattoos. Socken werden gewechselt, Fingernägel gereinigt, Zahnstocher ragen aus Mündern. Wer wie ich erholsamen Schlaf und ein B&B-Frühstück mit Blaubeersuppe hinter sich hat, schaut fast herzlos auf die morgendlichen Prozeduren der Greyhound-Fahrer. Aber sie lächeln. Und bieten mir Kaugummi an. `Texas`, kommentiert einer, als wir die Staatsgrenze überqueren, dann schlafen alle schon wieder. Während draußen vor dem Fenster die grasig-grüne Weite plötzlich struppigerem Land weicht. Es kommt der Moment, habe ich über das Greyhound-Reisen gelesen, da gleitest du hinein in die Landschaft vor dem Fenster; du gehst in ihr auf, und alle Mühsal des tagelangen Busfahrens ist vergessen. Jetzt ist er da, der Moment … Canyons als erste Vorzeichen von New Mexico. Die Straße windet sich als einzige einsame Schneise durch die Landschaft. Ein amerikanisches Urbild, und mein Herz schlägt höher: vom Mittleren in den richtigen Westen!“ (DIE ZEIT, 21.8.2014)
Und dann wieder: Europa …
Maloja, Engadin, Schweiz. „Nee, oder? Zunächst sah ich ihn nur aus dem linken Augenwinkel, auf der Passstraße von St. Moritz ins Bergell, im unscheinbaren Straßendorf Maloja: Einen kolossalen Palast mitten in den Bergen! Hatte der sich im Ort vertan? … Nun, ein ganzes Jahr später fahre ich auf derselben Straße. Gleißendes Licht liegt über den Zweieinhalbtausendern… Wild tanzen die Schneeflocken. Durch knietiefen Schnee stapfe ich an der Vorderfront entlang. Fünf Stockwerke hoch ragt rechts von mir die Fassade auf. Jugendstilgravuren in den Fensterscheiben malen ein Muster auf den Piz Margna. Man tritt in das Hotel Maloja Palace wie in einen Traum.“ (DIE ZEIT, 1.3.2012)
Dover, England: „…während man von oben auf eine alte Air-Force-Plattform schaut, ein Mahnmal mit Erinnerungstafel entdeckt, fährt einem der Wind durch die Haare, kann man loslaufen, ja, rennen, die Gedanken vom Meerblick weiten lassen. Die Kriegsspuren hier bedrückten nicht, sie faszinieren, findet der Philosoph Julian Baggini… Das Faszinierende an den cliffs sei ja, dass sie für jeden etwas anderes darstellten: `Die Immigranten sehen sie als Eingangstor. Dem Veteranen, der von Dunkirchen heimkehrte, werden sie immer Rettung bedeuten. Für die Asylanten drüben im französischen Lager Sangatte sind sie der Inbegriff einer Sehnsucht.“ (DIE ZEIT, 6.12.2012)
Laugharne, Wales, England. „Die helle Fassade von Brown`s Hotel schimmert in der Dunkelheit. Unbeleuchtet hocken niedrige Häuser rechts und links davon. Die Nacht im walisischen Laugharne ist ein bisschen unheimlich – so wie der Dichter Dylan Thomas sie 1953 in seinem Hörspiel `Unter dem Milchwald` beschrieb: `sternenlos und bibelschwarz, die Kopfsteinpflasterstraßen still, und der geduckte Liebespärchen- und Kaninchenwald humpelt unsichtbar hinab zur schlehenschwarzen, zähen, schwarzen, krähenschwarzen, fischerbootschaukelnden See.“ (DIE ZEIT, 30.10. 2014)
An diesem Ort bin ich nicht selbst gewesen: Protokoll aus Gespräch mit Usama Al-Shahmani, Irak
„Aus der Luft sieht der Tahrir-Platz in Bagdad klein aus. Er liegt am Ende der Brücke, hinter dem großen Kunstwerk von Jawad Salim, eingerahmt von Bäumen. Seit der Bildhauer 1958 dieses riesige Liberty Monument mit zahlreichen Bronzefiguren installiert hat, hat er seinen Namen: Platz der Befreiung. Keine der vielen Bomben, die seither gefallen sind, hat das Liberty Monument getroffen. Es scheint mir kein Zufall zu sein, dass sich die Demonstranten seit ein paar Monaten ausgerechnet hier wieder versammeln. Mein Bruder hat mir das Foto zum Geburtstag geschickt, weil er weiß, wie viel mir der Platz bedeutet. Er ist das Herz der Stadt. Als ich in den neunziger Jahren Student war, habe ich dort mit meinen Freunden in Cafés gesessen, schwarzen Tee getrunken und mit ihnen Bücher getauscht. Direkt angrenzend liegen das jüdische und das christliche Viertel von Bagdad. Man kann Kirchenglocken in der Nähe hören wie auch den Muezzin: Am Tahrir-Platz verdichtet sich die kulturelle Vielfalt des Iraks. Es gab außerdem immer einen Flohmarkt, da konnte ich Schuhe aus Europa finden, die für meine riesige Größe 47 passten. Ich stellte mir immer vor, dass unter dem Monument eine Theaterbühne stehen und Festivals stattfinden könnten. Aber als ich 2006, das erste Mal seit meiner Flucht, wieder in Bagdad war, rasten mein Bruder und ich mit dem Auto über den Platz, der im Bürgerkrieg leer und ausgestorben war wie ein Geisterfeld.“ (DIE ZEIT, 1.10.2015)